ATS Norderstedt: „Stress ist mittlerweile der Normalzustand bei Kindern“

(27.06.2022) Karin Nordwald ist seit Mai 2022 als Fachbereichsleitung in der Suchtprävention für den Landesverein tätig und arbeitet im ATS Suchthilfezentrum Norderstedt. Die Diplom-Sozialpädagogin und Suchttherapeutin ist zuständig für die Koordination der Prävention im gesamten ATS-Bereich, in der etwa 15 Kolleg*innen mit unterschiedlichen Stellenanteilen arbeiten. Außerdem führt sie mit ihrer Kollegin Clara Stegemann Präventionsveranstaltungen an Norderstedter Schulen durch.

Für uns alle war das Jahr 2021 von Einschränkungen durch die Corona-Pandemie geprägt. Wie haben sich die Restriktionen auf die Arbeit in den Schulen ausgewirkt?

Rückblickend können wir sagen, dass die Pandemie auch 2021 weiter eine Ausnahmesituation dargestellt hat; alle Lehrkräfte an den Schulen waren hoch angestrengt. Unsere Arbeit lief unter den schwierigen Bedingungen verhältnismäßig gut, erforderte aber immer viel Flexibilität: Ab Ende Februar konnten wir hier in Norderstedt wieder erste Präventionsveranstaltungen in den Grundschulen durchführen. Der Start verlief allerdings holprig, weil immer wieder Schulen Termine mit uns abgesagt haben – im Vordergrund stand und steht für die Lehrerinnen und Lehrer das Aufholen versäumten Unterrichts. In den weiterführenden Schulen haben wir nach den Sommerferien wieder mit Veranstaltungen begonnen.

Wie erleben Sie die Kinder? Gibt es Belastungen, über die die Kinder immer wieder sprechen?

Die Auffälligkeiten bei den Kindern und Jugendlichen sind deutlich, das belegen auch diverse Studien, die es mittlerweile zu dem Thema gibt. Wir erkennen immer wieder, dass es Kindern schwerer als vor Corona fällt, sich in eine Gruppe einzugliedern. All die Verunsicherungen haben bei vielen zu sozialem Rückzug geführt – die wissen häufig nicht, wie man sich zum Spielen verabredet, Grundlegendes fehlt da einfach. Wenn dann die Eltern auch noch ängstlich sind, überträgt sich das voll auf die Kinder. Lehrkräfte berichten, dass Gewalt zugenommen hat. Immer wieder fallen Kinder auf, sind unruhig und kennen bei körperlichen Auseinandersetzungen kein Maß.

Wie arbeiten Sie denn mit den Kindern der Grundschulen?

Bei den Kleinen fördern wir in erster Linie die Selbst- und Fremdwahrnehmung, die Sinneswahrnehmung und das Vertrauen. Wir bauen zum Beispiel einen Vertrauensparcours auf, den die Kinder zu zweit abgehen; das eine Kind führt das andere, das die Augen verbunden hat. So lernen sie, ihren Körper und ihre Sinne wahrzunehmen, werden achtsamer und spüren ihre eigenen Grenzen. Wir fördern dabei auch das Vertrauen zueinander. Das Erleben und das Sprechen über ihre Erfahrungen macht Kinder stark. Problematisch ist allerdings, dass oft schon die Grundschulkinder viel zu viel online unterwegs sind. Schon bei den ganz Kleinen sehen wir eine Fokussierung auf digitale Medien. 

Wie unterscheidet sich die Belastung der Kinder aus weiterführenden Schulen von denen der Grundschulkinder? 

Die größeren Kinder können Stress oft schon benennen. Wir machen dazu Übungen wie das Körperbild, auf dem sie auf einer Umrisszeichnung eines Körpers markieren, wo sie überall Stress spüren. Wir erkennen dann schnell: Die Jugendlichen sind insgesamt gestresster als vor Corona. Oder wir fragen: „Wie stressig ist es in euren Familien?“ Dann erzählen viele von Streit oder auch von drohender Arbeitslosigkeit der Eltern. Wir machen mit den Schülerinnen und Schülern kleine Atem- und Körperübungen, um die Achtsamkeit auf den eigenen Körper zu lenken.

Gibt es typische Beschwerden, vielleicht auch körperliche?

Auffällig viele Mädchen klagen über Kopfschmerzen und Migräne. Bei den Jungen überwiegen Bauchschmerzen.

Für die größeren Kinder haben Sie verschiedene Programme GESTALTET, aus denen die Lehrerinnen und Lehrer wählen können. Es geht dabei um Alkohol, Cannabis und Medien. 

Richtig, wir klären vorab mit den Lehrkräften, was die Klasse braucht und wie die Stimmung in der Klasse überhaupt ist. Anspruchsvolle Gruppen besuchen wir dann auch zu zweit. Mit Schülern der achten, neunten und zehnten Klasse klären wir etwa Fakten und Theorien zu Cannabis und entwickeln Strategien, um die Selbstkontrolle und die psychische Widerstandskraft zu stärken. Wir thematisieren in der Einheit über Alkohol, warum Menschen Alkohol trinken, welche Wirkungen und welche Folgen es gibt. Und wie sich Genuss von Sucht unterscheidet – wo ist da die Grenze? Ziel ist es, dass die Jugendlichen eine eigene Haltung zu kritischen Themen entwickeln, ihr eigenes Verhalten reflektieren und dadurch eine sogenannte Risikokompetenz entwickeln.
Auffällig ist, dass es von den Schulen immer mehr Nachfragen zum Thema digitale Medien gibt. Die Notwendigkeit zum stärkeren Einsatz der digitalen Medien in Schule bringt durchaus Probleme mit sich, denn es fällt den Eltern oft schwer, Online-Zeiten zu begrenzen; wir beobachten da auch eine gewisse Hilflosigkeit und Vermeidung von Konflikten. Für Medienpädagogik verweisen wir gern an die Fachstelle „Medien und Glückspiel“ der ATS Suchthilfezentren oder an den Offenen Kanal Schleswig-Holstein.

Wie erleben Sie die Schülerinnen und Schüler bei ihren Besuchen?

Für die Kinder und Jugendlichen ist es oft sehr entlastend zu erleben, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind – jedenfalls wenn die Klassengemeinschaft gut ist, trauen sie sich, von sich zu erzählen. Alles in allem können wir jedoch feststellen, dass Stress quasi der Normalzustand bei vielen Kindern ist. Das sehen wir mit Sorge, denn wer gestresst ist, wer sich nicht wohl fühlt, wer sich nicht gut aufgehoben fühlt, neigt eher dazu, sich ein Wohlbefinden durch Alkohol, Drogen und zu hohen Medienkonsum zu holen.