"Sie haben sich dieser Herausforderung angenommen und sind gemeinsam da durchgegangen."

(11.03.2022) Kurz nach der Übernahme der kommissarischen Einrichtungsleitung war Sören Kühn mit einer Ausnahmesituation konfrontiert: Im Paul-Gerhardt-Haus in Wahlstedt kam es zu einer Häufung von Corona-Fällen unter den Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen. Im Interview berichtet der Einrichtungsleiter, wie er die vergangenen Wochen erlebt hat und wie die Menschen im Altenpflegeheim mit diesem Ereignis umgegangen sind.

Frage: Wie haben Sie die letzten Wochen erlebt?

Kühn: Es war eine Ausnahmesituation, eine Grenzsituation. So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Das belastet natürlich - schon allein die Tatsache, dass es Positivfälle gab. Aber auch, dass die Mitarbeiter weggebrochen sind und ich zwischenzeitlich gar nicht mehr wusste, wie ich die Einrichtung am Laufen halten soll. Gerade weil auch Leitungskräfte weggebrochen sind. Und was extrem war, für mich ganz persönlich, waren die Auswirkungen auf die Bewohner*innen. Das hat mich sehr mitgenommen und in Situationen gebracht, in denen ich durchaus mit mir gehadert habe - aber auch mit der Frage, wie überhaupt die Einrichtung funktioniert und ob das alles so richtig ist, was wir gerade machen. Das war schon sehr belastend.

Und außerdem war es natürlich auch für meine Familie, für meine Frau und meine kleine Tochter, die nachts aus dem Schlaf gerissen wurden, weil das Telefon tagsüber und nachts ständig ging. Nie Pause haben, immer nur im Einsatz sein und irgendwie sich durchkämpfen - das war sehr belastend. Und das Schlimmste war dieser Fokus auf nur noch schlechten Nachrichten und scheinbar nichts Gutes mehr. Zum Nachtdienst angerufen zu werden, dass ein weiterer Bewohner positiv ist, und Sorge zu haben, dass niemand mehr da sein könnte, der den Nachtdienst übernehmen kann, das war schon sehr belastend.

Frage: Wie sind Sie damit umgegangen, als die ersten Fälle bekannt wurden? Einerseits hätte man aufgrund der extrem hohen Infektionszahlen durchaus erwarten können, dass so etwas was früher oder später passiert. Andererseits hofft man natürlich, dass es ausgerechnet in der eigenen Einrichtung nicht passiert.

Kühn: Erst war ich sehr überrascht, weil ich zu der ersten positiv getesteten Bewohnerin selbst über 20 Minuten im Gespräch war, natürlich immer mit Maske und allen anderen Vorkehrungen. Ich konnte es eigentlich kaum glauben. Und als dann die ersten zusätzlichen Fälle kamen, dann war das schon eine Ohnmacht und mit viel Unsicherheit verbunden: Was passiert da gerade? Und wie kann ich es aufhalten? Aber ich hätte nie damit gerechnet. Was hat mich so entsetzt hat, war halt die Schnelligkeit, wie schnell sich der Virus in unserer Einrichtung verbreitet hat, wie schnell Bewohner in kürzester Zeit infiziert waren und wie drastisch sich das Leben verändert hat.

Frage: Welche konkreten Auswirkungen hat diese Situation auf das Kollegium und auf die Arbeitsbelastung?

Kühn: Der Corona-Ausbruch hat erst mal immense Auswirkungen auf das gesamte Personal gehabt, weil wir natürlich relativ zügig uns dazu entschieden haben, alles zu dezentralisieren, also die Versorgung primär auf den Wohnbereichen und in den Zimmern zu veranlassen. Das heißt, der Speisesaal wurde geschlossen, alle Tagesräume wurden geschlossen. Dies bedeutet aber auch, dass die Mitarbeiter alle Mahlzeiten ins Zimmer anbringen müssen. Und das ist natürlich ein großer Mehraufwand.

Die Kolleginnen und Kollegen im Bereich der Pflege haben die Auswirkungen zügig gespürt, weil dort in kürzester Zeit viele Mitarbeiter ausgefallen sind. Es ist durchaus vorgekommen, dass die Kollegen zum Dienst erschienen sind und schon zwei, drei, manchmal vier oder fünf anderen Kollegen positiv getestet wurden, sodass diese Kollegen wieder nach Hause gehen mussten und die Verbliebenen manchmal alleine dastanden. Und das ist eine Situation, die für jede Pflegekraft in hohem Maße belastend ist. Sie möchten den Bewohnern etwas Gutes tun und die bestmögliche Pflege bieten, was ihnen auch einfach zusteht. Aber zu erkennen, dass sie ihre eigene Arbeit einschränken müssen, um den Betrieb überhaupt aufrecht zu erhalten, das ist für jede Pflegekraft eine große Belastung.

Frage: Wie sind Ihre Kolleginnen und Kollegen damit umgegangen - also sowohl mit den sehr schnell wandelnden Rahmenbedingungen, aber auch mit den zusätzlichen Aufgaben und der unsicheren Perspektive, wie es den infizierten und noch nicht infizierten Bewohnern ergehen wird?

Kühn: Sie sind alle sehr solidarisch miteinander umgegangen und haben sich gegenseitig gestützt und auch geholfen. Da hat sich gezeigt, wie gut es hier doch funktioniert, auch fachbereichsübergreifend. Da haben alle an einem Strang gezogen, um sich gemeinsam durchzukämpfen - natürlich auch mit dem Einsatz von nicht üblichen Dienstzeiten und weit über das Maß hinaus, was man eigentlich als Arbeitgeber erwarten kann. Es war schon extrem, was die Kolleginnen und Kollegen geleistet haben, aber sie haben sich dieser Herausforderung angenommen und sind gemeinsam da durchgegangen. Aber es war natürlich auch mit viel Schmerz und mit viel Leid verbunden. Und es war mit Ängsten verbunden - was ist, wenn ich mich infiziere und dieses Virus mit nach Hause trage? Das hat viel mit den Kolleginnen und Kollegen gemacht, für viele war es eine Grenzerfahrung, auch für mich. Manches Mal haben Kolleginnen und Kollegen mich weinend zu Hause angerufen, weil sie nicht mehr weiterwussten. Und das zeigt dann eindrucksvoll, unter welcher Belastung sie gestanden haben.

Frage: Mit welchen konkreten Maßnahmen sind Sie durch die letzten Wochen gekommen? Sie haben beispielsweise Unterstützung aus anderen Heimen und aus anderen Bereichen des Landesvereins.

Kühn: Wir haben natürlich erst einmal versucht, es selbst aufrechtzuerhalten. Als ich dann doch merkte, dass meine eigenen Leute durch Infektionen wegbrechen, habe ich Notrufe abgesetzt in andere Pflegeeinrichtungen im Landesverein und auch über die Geschäftsbereichsleitung. Daraufhin haben wir ziemlich zügig Hilfe bekommen aus anderen Einrichtungen wie dem Klosterstift in Bordesholm oder dem Propst-Riewerts-Haus in Neumünster oder aus dem Psychiatrischen Zentrum in Rickling. Die Einrichtungen haben nach ihren jeweiligen Möglichkeiten, geschaut, was sie uns zur Verfügung stellen können. Das war schon toll.

Denn ich kam immer wieder in Situationen, wo wir nicht mehr wussten, wie wir die Dienstpläne abdecken sollen, weil auch insbesondere Pflegefachkräfte fehlten. Als dann Frau Gebh, die frühere Leiterin der Pflegeberufeschule und jetzige Leiterin des Strategischen Human Ressource Managements, gemeinsam mit unserer Geschäftsbereichsleiterin Maria von Glischinski entschieden hat, den Unterricht für eine Klasse aus der Pflegeberufeschule zu unterbrechen und uns die geboosterten Pflegeschüler zur Unterstützung zu schicken - das war natürlich auch eine ganz große Hilfe.

Daneben haben wir regelmäßige Testungen durchgeführt und die Bewohner regelmäßig sehr umfänglich getestet. Sobald ein Schnelltestergebnis positiv war, haben wir einen PCR-Test durchgeführt und auf direktem Wege ins Labor gebracht und haben das Bewohnerzimmer als Infektionszimmer gelten lassen, woraufhin jeder dort seine persönliche Schutzausrüstung getragen hat, sobald er das Zimmer betreten hat.

Frage: Wie sind die Bewohner und auch die Angehörigen mit dieser Ausnahmesituation umgegangen?

Kühn: Die Angehörigen haben sehr verständnisvoll reagiert und sind uns generell sehr wohlgesonnen. Viele haben uns regelmäßig angerufen und gute Wünsche geschickt und waren sehr nah und haben auch teilweise Hilfe angeboten. Das war ganz toll. Die Bewohner war es doch eine große Belastung, einen Großteil des Tages in ihren Zimmern auf 20 Quadratmetern zu verbringen. Sie waren zu keinem Zeitpunkt eingesperrt, aber dennoch war es für sie eine schwere Last - sie konnten beispielsweise vorrübergehend ihre Geh-und-Steh-Übungen nicht mehr in dem gewohnten Maße machen oder sich untereinander austauschen.

Frage: Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt und auch mit dem Hygienestab des Landesvereins erlebt?

Kühn: Sehr gut. Mit dem Gesundheitsamt habe ich die Zusammenarbeit als sehr konstruktiv und kollegial erlebt. Ich bin auch dankbar, dass ich dort feste Ansprechpartner hatte. Das hat sehr gut funktioniert, auch mit der Heimaufsicht. Auch der Hygienestab des Landesvereins war eine große Hilfe für mich. Die haben wirklich alles gegeben, was sie konnten.

Frage: Wie haben Sie die Solidarität im gesamten Landesverein erlebt? Gibt es etwas, das Sie sich in einer solchen Ausnahmesituation wünschen würden? Wie kann man seine Solidarität angemessen ausdrücken, gerade wenn man nicht in der Pflege arbeitet und den fachlichen Hintergrund hat, um vor Ort zu helfen?

Kühn: Erstmal fand ich total toll, dass so viele Leute sich bei mir gemeldet haben. Kollegen wie Frank Vilsmaier aus dem Psychiatrischen Zentrum haben mich regelmäßig angerufen. Unser Leiter des Hygienestabs, Dr. Artur Bahr, hat fast täglich zu mir Kontakt gehalten und auch persönlich gefragt, wie es mir in dieser Ausnahmesituation geht. Das war schon toll.

Zudem gab es viele weitere Gesten, die auf den ersten Blick vielleicht klein wirken, aber eine unheimlich große Wirkung haben. Wir haben beispielsweise kistenweise Limonaden und Cola und Süßigkeiten bekommen. Oder Primeln für alle Bewohner. Das war eine unglaublich nette Geste. Eine Kollegin aus einem anderen Altenpflegeheim hat mit ihrem Mann für jeden Mitarbeiter einen Lebkuchen mit einem Spruch hier abgegeben.

Es gab auch Gesten, die mir als Leiter entgegengebracht wurden. Ich habe von der Mitarbeiterschaft ein kleines Präsent für meine Frau und meine kleine Tochter bekommen, ein Buch, Blumen und ein Gutschein, einfach als Ausdruck der Wertschätzung. Das fand ich total nett, diese Zeichen haben mich zusätzlich motiviert.

Frage: Gibt es etwas, was Sie für sich als junger Einrichtungsleiter aus dieser Situation gelernt haben?

Kühn: Ich glaube schon, dass wir sehr Vieles in dieser unvorhersehbaren Ausnahmesituation richtig gemacht haben. Organisatorisch sind wir gut aufgestellt. Dies ist aber nur möglich, wenn man ein gutes Team hinter sich hat. Unsere Mitarbeiter pflegen ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zum Haus, zu den Bewohnern und den anderen Mitarbeitern. Eigentlich ist das der größte Schatz. Es ist aus meiner Sicht weiterhin das Wichtigste, die Bewohner im Auge zu haben, aber auch die Mitarbeiter zu pflegen und nah an ihnen dran zu sein und zu wertschätzen, was sie leisten. Das ist mehr, als man erwarten kann. Ein solches Krisenmanagement wäre ohne so ein Team nicht möglich.

Frage: Wie geht es in den nächsten Tagen und Wochen bei Ihnen in Wahlstedt weiter? Die ersten Mitarbeiter*innen wurden bereits freigetestet.

Kühn: Es wird zunehmend besser. Immer mehr Bewohner werden freigetestet und können sich wieder frei bewegen. Es ist schon jetzt spürbar mehr Leben und wird Schritt für Schritt zu der Einrichtung, die wir so sehr schätzen. Die zwischenzeitliche Stille ist nicht mehr da. Wir testen aber natürlich weiter. Bis wir keine Infektion mehr in der Einrichtung haben, glaube ich, dauert es noch an. Heute Morgen haben wir noch eine positive neue Bewohnerin dazubekommen. Es wird noch dauern, bis wir das wirklich hinter uns gebracht haben. In etwa drei Wochen kann ich mir vorstellen, dass dann wieder alles in Ordnung ist.

Und dann heißt es, das Erlebte aufzuarbeiten. Dabei wird es aus meiner Sicht ganz wichtig, dass der Träger eine Möglichkeit schafft, über das Erlebte zu sprechen. Wir müssen das aufarbeiten, was wir gesehen haben, was wir gefühlt haben und was eigentlich nicht zu unserem normalen Arbeitsalltag gehört.