Erlebnisse und Erinnerungen sind die Wurzeln des Bildes von Psychiatrie - bis heute

(21.04.2021) Dr. Nikolas Kahlke, leitender Chefarzt des Psychiatrischen Krankenhauses Rickling, macht deutlich, dass sich aus Zeitzeugenberichten auch eine Verpflichtung ergibt, das Bild der Psychiatrie und Psychotherapie in die Gegenwart zu holen - mit Schulprojekten, Antistigma-Aktivitäten oder Ethikberatungen.

Wir sind dankbar, dass  Zeitzeug*innen ihre Erinnerungen auch nach langer Zeit weiterhin klar und deutlich schildern.  Ihre Erinnerungen und die Gedanken, die daraus hervorgehen, helfen uns, die Gegenwart zu verstehen – und das Bild von Psychiatrie heute.

In der persönlichen Erinnerung unserer ehemaligen Mitarbeiterin, die ihre Beobachtungen im Norddeutschen Rundfunk geschildert hat, haben die damaligen Verhältnisse und Zustände deutliche, nachvollziehbare Spuren hinterlassen.

Wir können davon ausgehen, dass sich diese Spuren auch in einem Großteil der Bevölkerung finden, denn nahezu jeder von uns hat in der Verwandtschaft oder dem Bekanntenkreis Menschen, in den damaligen Zeiten psychisch erkrankt waren und Behandlung bekommen haben oder hätten bekommen sollen – auch wenn dies oft verschwiegen und tabuisiert wurde.  

Die Schilderungen machen klar, wie das Bild von Psychiatrie geprägt wurde. Mit diesem Bild setzen wir uns auseinander und werden das weiterhin tun. Es ist eine erneute Mahnung, unsere heutigen Angebote für Menschen mit psychiatrischem Hilfebedarf bestmöglich zu gestalten.

Weitergabe von Erlebnissen und Erinnerungen

Die Zeitzeugin vermittelt mit ihrer Erzählung ein repräsentatives Bild dafür, was bis heute mit der Psychiatrie in Verbindung gebracht wird. Jeder, der damals Erfahrungen mit Psychiatrie gemacht hat - mit Zwang, Gewalt, fehlender fachlicher oder staatlicher Kontrolle - wird starke innere Bilder dazu entwickelt haben. Diese Bilder wurden natürlich auch an andere weitergegeben, an Kinder und Verwandte.

Daraus resultiert auch heute noch an vielen Stellen eine Ablehnung und Stigmatisierung psychischer Erkrankung in der Bevölkerung.  

Und das hat für unsere heutige Arbeit ebenfalls eine hohe Bedeutung: Das Bild von damals belastet heute die aktuell psychisch Erkrankten, die durch diese Erzählungen einem zusätzlichen psychischen Druck ausgesetzt sind, auch wenn sie mit solchen Zuständen nie in Berührung gekommen sind und auch nicht kommen werden.

Unser Umgang mit der Geschichte der Psychiatrie 

Die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen und ihren Angehörigen in Deutschland hat sich sehr stark weiterentwickelt in den vergangenen 40 bis 50 Jahren und hat kaum noch etwas mit den Verhältnissen zu tun, die geschildert werden.

Behandlung auf Augenhöhe, Leitlinien, Patientenrechte, aber auch staatliche und fachliche Kontrollinstanzen verhindern bei uns solche Zustände sehr sicher. Was bleibt und unsere Arbeit prägt, sind die Bilder von Psychiatrie, die damals durch diese schlimmen Ereignisse angelegt wurden. 

Es ist unsere Verpflichtung, diesen Bildern zu begegnen. Wir tun dies seit vielen Jahren sehr umfangreich und konsequent an vielen Stellen: mit Schulprojekten, Antistigma-Aktivitäten, unserem Projekt für Kinder psychisch erkrankter Eltern, unserer Ethikgruppe und weiteren Aktivitäten.

Damit entwickeln wir eine neue Psychiatrie, aus der zum Beispiel auch die Psychotherapie nicht mehr wegzudenken ist. Wir haben die Erfahrung, dass sich das Bild von Psychiatrie und Psychotherapie in der Bevölkerung und bei unseren Patienten und ihren Angehörigen sehr deutlich und erfreulich verändert. 

Unser Umgang mit negativen Erlebnissen, Erfahrungen und Bildern

Der Umgang mit negativen Erlebnissen und Erinnerungen ist seit vielen Jahren Gegenstand der Psychotherapieforschung. Jeder Patient hat eine individuelle Geschichte mit sich und seiner Erkrankung: wie ihm geholfen wurde oder wie es ihn oder andere hilflos gemacht hat. Auch Erfahrungen mit Stigmatisierungen und Vorurteilen belasten zum Teil sehr schwer. Darüber hinaus kommen wir auch heutzutage trotz aller fachlicher Weiterentwicklung nicht ohne Zwang und freiheitsentziehende Maßnahmen aus.

Die Bearbeitung von negativen Erfahrungen, von Traumatisierungen, von belasteten Biographien nimmt einen großen Raum ein in der Therapieplanung. Dazu gehören heutzutage selbstverständlich auch negative Erfahrungen, die mit uns Behandlern gemacht werden – in den Situationen, wo die Schwere der Erkrankung zu einer Bedrohung für die Patienten oder das Umfeld wird und wir vorübergehend und unter strengen juristischen Vorgaben, Zwang anwenden und Freiheit einschränken müssen. 

Für uns ist es selbstverständlich, sowohl Journalist*innen als auch Zeitzeug*innen den Zugang zu Orten der Psychiatrischen Versorgung zu öffnen, die bereits in den Sechziger Jahren existiert haben. Soweit es die Corona-Situation zulässt, würden wir ihnen auch jederzeit die Türen zu unseren Behandlungsorten öffnen und ihnen zeigen, dass die heutige Arbeit in der Psychiatrie und Psychotherapie kaum noch etwas damit zu tun haben dürfte, was sie damals erlebt haben.