Jetzt nach ICF-Standards: die neue Leistungsvereinbarung des Heidehofs

(25.2.2022) Im Januar wurde für den Heidehof in Rickling, gemeinschaftliches Wohnen für mehrfach beeinträchtigte Abhängigkeitskranke, die erste neue Leistungsvereinbarung der Eingliederungshilfe in der Koordinierungsstelle soziale Hilfen der schleswig-holsteinischen Kreise (Kosoz) unterzeichnet. Der Vertrag zwischen der Kosoz und dem Landesverein gilt von nun an als Orientierung für nachfolgende Vereinbarungen.

„Für unsere Bewohnerinnen und Bewohner ändert sich in ihrem gewohnten Alltag gar nichts – und das ist auch gut so!“, fasst es Thomas Harm, der Leiter des Heidehofs, kurz zusammen: Weiterhin werden 35 Menschen mit einer Abhängigkeit von Suchtmitteln und zusätzlichen Erkrankungen hier ihr gesichertes Zuhause haben, Unterstützung bei Alltagstätigkeiten und Angebote zur Tagesstruktur erhalten, sie werden die Kochgruppe besuchen, bei Einkaufsfahrten und Arztgängen begleitet werden und immer eine*n qualifizierte*n Ansprechpartner*in finden, wenn der Suchtdruck kommt oder sie in eine persönliche Krise geraten. Doch die Rahmenbedingungen sind neu aufgestellt worden und die Arbeit der Mitarbeitenden wird sich verändern. 

„Dass für den Heidehof als erster Einrichtung in der schleswig-holsteinischen Fläche jetzt modellhaft eine neue Leistungsvereinbarung mit der Kosoz abgeschlossen werden konnte, freut uns sehr“, erklärt Marian Mrozek, Leiter des Controllings und Verhandlungsführer der Gespräche, „denn wir sind durch die ICF-basierte Festschreibung unserer Leistungen Vorreiter geworden.“ Mittlerweile wurden bereits für weitere Einrichtungen des Landesvereins Leistungsvereinbarungen mit der Kosoz unterzeichnet, die sich eng an die des Heidehofs anlehnen: Auch das Haus Ruhleben, die Assistenz im eigenen Wohnraum (AEG) des ATS Suchthilfezentrums Ostholstein sowie die Assistierte Begleitung im eigenen Wohnraum (ABW) der Segeberger Wohn- und Werkstätten arbeiten jetzt standardisiert und erfassen halbjährlich – wie der Heidehof – die Wirksamkeit der Maßnahmen; die Vertragsunterzeichnung für das Gemeinschaftliche Wohnen im Erlenhof (ehemals Wohnstätte) steht kurz bevor.

Der Heidehof: modellhaftes Projekt für ganz Schleswig-Holstein

Seit das Bundesteilhabegesetz (BTHG) 2017 in Kraft getreten war, wurden in Schleswig-Holstein die Kosten für Grundsicherung und Fachleistungen, also all die pädagogischen und therapeutischen Unterstützungen, die in Einrichtungen wie dem Heidehof geleistet werden, pauschal abgerechnet. „Das war bis dato das BTHG-SH light“, führt Marian Mrozek aus, „Wohnen wurde mit 80 Prozent der Kosten bewertet, alle Fachleistungen mit 20 Prozent. Die alten Verträge liefen Ende 2021 aus und so mussten neue geschlossen werden.“ Im Sommer 2021 kam Anett Rohwer von der Eingliederungshilfe des Kreises Segeberg auf den Landesverein zu und fragte, ob man gemeinsam eine Leistungsvereinbarung für den Heidehof erarbeiten wolle, die dann modellhaft und als Orientierung für alle weiteren Verträge gelten solle.

Thomas Harm und Marian Mrozek ließen sich für den Landesverein gern darauf ein, denn damit war die Möglichkeit der Richtungsweisung gegeben. Zu Beginn der Arbeiten am neuen Vertrag fand zwischen den Mitarbeiter*innen der Kosoz, der Eingliederungshilfe und Vertreter*innen des Landesvereins ein Ortstermin auf dem Heidehof statt, bei dem in konstruktiver Arbeitsatmosphäre verschiedene Themen sofort geklärt werden konnten wie etwa die Notwendigkeit, Arztbesuche weiterhin zu begleiten oder Alkohol- und Drogenkontrollen als Fachleistung vor Ort durchführen zu können. 

Neu: ICF-Basierung der Leistungen

Wichtig bei der Neuausrichtung war es zum einen, die Kriterien mit einzubeziehen, mit denen Behinderungen und vor allem die Einschränkungen an der Teilhabe an Gesellschaft für einen behinderten Menschen definiert werden. Diese Kriterien werden in einem international genutzten Katalog aufgelistet, der den sperrigen Namen „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) trägt. Für jede*n Bewohner*in der Einrichtung werden jetzt ICF-Kriterien in seinem*ihrem Teilhabeplan festgeschrieben. Marian Mrozek erläutert, dass für den Bereich der Menschen mit geistigen Behinderungen die ICF-Items von Christiane Schmidt, Projektbeauftragte der Segeberger Wohn- und Werkstätten, landesvereinsintern modifiziert wurden – „diese Kriterien sind auf die Teilhabefähigkeit von Menschen mit psychiatrischen und suchtpsychiatrischen Erkrankungen nur bedingt anwendbar, deshalb haben wir in der Leistungsvereinbarung für den Heidehof und nachfolgende Einrichtungen wie das Haus Ruhleben noch einmal Anpassungen vorgenommen“, führt er aus. 

Bei den Gesprächen mit den Mitarbeiter*innen der Eingliederungshilfe war auch Thomas Winter, Pädagogischer Leiter des Hauses Ruhleben, eingebunden, denn auch für seine Einrichtung stand die Neuorientierung an. „Auch für das Haus Ruhleben konnten wir wertvolle Impulse gewinnen“, fasst er zusammen und beschreibt, dass mehrere Fallbeispiele aus beiden Häusern durchgearbeitet wurden, um die Anamnesegespräche beim Einzug neuer Bewohner*innen zu verändern.

Binnendifferenzierung durch die Möglichkeit zur Selbstversorgung 

„Der Kosoz war es wichtig, dass wir binnendifferenzierte Angebote vorhalten“, berichtet Thomas Harm. „Daher unterscheiden wir jetzt zwischen Selbstversogern und Bewohnerinnen und Bewohnern, die Mahlzeiten gestellt bekommen.“ Diese beiden unterschiedlichen Angebote werden Zeitkorridore genannt – dieser abstrakte Begriff bildet auch ab, dass der zeitliche  Aufwand an Unterstützung für die Mitarbeiter*innen des Heidehofs in beiden Gruppen unterschiedlich hoch ist – „dies schlägt sich natürlich in verschiedenen Kosten nieder, die wir dann abrechnen“, so der Leiter des Heidehofs.

Mit dem neuen Vertrag ist auch eine differenziertere Anamnese bei Aufnahme eines*r neuen Bewohners*in sowie eine veränderte Dokumentation aller Leistungen notwendig geworden. Diese würden für die Mitarbeitenden in der ersten Zeit die größte Umstellung darstellen, so Thomas Harm, denn die ICF-Kriterien seien nicht für jedermann sofort verstehbar. „Wir sind mit unserer alten Dokumentation, die Stephan Suckow als Projektleiter hervorragend professionalisiert hatte, schon sehr gut aufgestellt gewesen“, führt er weiter aus, „die neue Dokumentation baut auf der Vorarbeit durch Herrn Suckow auf.“

Wirksamkeitsprüfung 

Als „ganz neues Element“ bezeichnet Dr. Clemens Veltrup, Geschäftsbereichsleiter der Sucht und ebenfalls Teilnehmer der Verhandlungen, die dritte große Veränderung im Vergleich zu vorangegangenen Leistungsvereinbarungen: die Erfassung der Wirksamkeit. „Sie ist integraler Bestandteil eines gelungenen Qualitätsmanagements und ergibt sich aus dem reflektierten Zusammenspiel von Struktur- und Prozessqualität“, so Veltrup, „die Ergebnisse der Arbeit einer Einrichtung wie dem Heidehof oder dem Haus Ruhleben zeigen Wirkung und sind wirksam.“ Und das könne man demnächst anhand der Prüfung von bestimmten Resultatskriterien auch zeigen.

Dafür wurden Fragen entwickelt, die folgende Wirksamkeitsindikatoren abprüfen:

  • Milderung der psychischen Störung, also der Suchterkrankung und anderer psychiatrischer Erkrankungen wie etwa Depression 
  • Milderung der somatischen Störung wie etwa Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • Stattfinden eines regelmäßigen Tagesablaufs
  • Verbesserung von lebenspraktische Fertigkeiten wie selbstständiges Haushalten oder Lesen und Schreiben

Halbjährlich wird jetzt in einem gemeinsamen Gespräch mit dem*r Bewohner*in erörtert, wie sich die psychische und physische Situation verändert hat. Die anonymisierten Ergebnisse der Gespräche werden anschließend an die Eingliederungshilfe des Kreises Segeberg weitergeleitet und dokumentieren, wie nachhaltig die Verbesserungen durch die Unterstützung vor Ort sind.

Für die Angebote der Eingliederungshilfe im Geschäftsbereich Suchthilfe, aber auch im Geschäftsbereich Teilhabe sind die gefundenen Wege zur Überprüfung der Wirksamkeit zielführend. „Hier war es wichtig, über den Tellerrand der spezifisch verhandelten Einrichtungen zu schauen, um im Landesverein für verbindliche Qualitätsstandards zu sorgen“, wie Dr. Clemens Veltrup hinzufügt.

„Wichtige Erkenntnisse gewonnen“

Die Gespräche im Vorfeld wie auch die abschließenden Verhandlungen wurden von allen Beteiligten als angenehm empfunden, wie Thomas Harm berichtet. So beschreibt Vicky Chorowksy, pädagogische Mitarbeiterin der Eingliederungshilfe des Kreises Segeberg, in einer nachfolgenden Mail die Gespräche als überaus produktiv und für alle Seiten zufriedenstellend: „Alle Beteiligten nahmen entsprechende Erkenntnisse und neue Sichtweisen mit auf den Weg. Ich danke an dieser Stelle Herrn Harm und Herrn Winter für die bereichernde Zusammenarbeit.“ Auch im Diakonischen Werk als Dachverband fanden die Leistungsvereinbarungen positive Resonanz und wurden bereits an andere Trägern als Orientierung weitergegeben.

epp

Das Bundesteilhabegesetz

Das Bundesteilhabegesetz regelt seit 2017 die Leistungen der Eingliederungshilfe, um Menschen, die behindert oder von einer Behinderung bedroht sind, die Teilhabe an Gesellschaft zu ermöglichen. Es bezieht sich auf die Bereiche 

  • Lernen und Wissensanwendung
  • Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
  • Kommunikation
  • Mobilität
  • Selbstversorgung
  • Häusliches Leben
  • Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen
  • Bedeutende Lebensbereiche
  • Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben