Medikamentenversuche in den Ricklinger Anstalten: Landesverein stellt sich der Verantwortung

(21.04.2021) Im Zeitraum zwischen 1949 und 1975 haben in den damaligen Ricklinger Anstalten sowohl Medikamentenerprobungen als auch Anwendungsbeobachtungen stattgefunden. Dies geht aus einer unabhängigen wissenschaftlichen Untersuchung hervor, die von der Universität Lübeck im Auftrag des Sozialausschusses des Schleswig-Holsteinischen Landtages durchgeführt und vom Landesverein mit der Bereitstellung von umfangreichen Archivbeständen unterstützt wurde.

Der Bericht stellt klar, dass es sich bei den Versuchen um „keine Ricklinger Besonderheit“ gehandelt habe. Die Erprobungen seien sowohl in kirchlich-diakonischen Einrichtungen als auch in staatlichen Einrichtungen wie den Landeskrankenhäusern oder der Universitätspsychiatrie üblich gewesen.

Sedierungen: Ruhe schaffen, Kosten sparen

Dem Bericht zufolge wurden in Rickling „ununterbrochen immer wieder starke Sedierungen“ vorgenommen, die Sedierung war Teil der „Standardtherapie“ in Rickling. Nach Darstellung des Berichts seien aus damaliger Sicht die Psychopharmaka nötig gewesen, um eine vermeintliche „Unruhe“ auf den Stationen niedrig zu halten. Die Sedierung sei oftmals massiv erfolgt und habe vor allem disziplinierende Funktion gehabt.

Zudem wurden Prüfpräparate als Möglichkeit zur Einsparung von Kosten gesehen: Ein Teil der Medikamentenversorgung erfolgte nach Erkenntnissen der Studie „unter Umgehung der Bestimmungen“ zu günstigen Konditionen direkt von pharmazeutischen Firmen. Der wissenschaftliche Ertrag der Experimente ist zweifelhaft: Aus dem Untersuchungsbericht geht hervor, dass in Rickling keine klinische Forschung oder systematische Studien mit einem wissenschaftlichen Anspruch zu Medikamenten durchgeführt wurden. Es wurden stattdessen Medikamente, die damals neuartig und bereits zugelassen waren, angewendet, um den erhofften therapeutischen Effekt zu überprüfen. Derartige Verfahren sind grundsätzlich angemessen und rechtlich zulässig.

Aufklärung war unzulänglich

Die Versuche waren möglich, weil es kaum arzneimittelrechtliche oder berufsrechtliche Begrenzungen des Vorgehens der Ärzte bei Medikamentenerprobungen und Anwendungsbeobachtungen gab – Ärzte konnten die Einwilligung der Klient*innen im eigenen Ermessen behandeln. Wie weit eine Aufklärung zum damaligen Zeitpunkt gehen musste, war für den Untersuchungszeitraum nicht geregelt. Der Untersuchungsbericht stellt ausdrücklich fest, dass darüber „keine Rechtsicherheit“ herrschte. In welchem Umfang eine Aufklärung erfolgt ist, lässt sich aus den Unterlagen nicht ermitteln. Es ist aber anzunehmen, dass aus heutiger Sicht die Aufklärung gewiss unzulänglich war.

Im Alltag der Ricklinger Anstalten spielten diese Fragen dem Bericht zufolge keine Rolle, eine Einwilligung wurde nicht als grundsätzlich erforderlich angesehen. Ärzte waren offenbar in erster Linie darauf bedacht, sich zum juristischen Eigenschutz abzusichern, die Wahrung von Aspekten, die heute unter dem Begriff der Patientenrechte subsumiert werden, spielte keine oder eine untergeordnete Rolle. Zudem ist es dem Bericht zufolge nicht nachvollziehbar, inwiefern Landesverein und Einrichtungsleitung über den Umfang von Medikamentenerprobungen informiert waren.

Qualifiziertes Personal und bestmögliche Ausstattung sind unverzichtbar

Der Landesverein bekennt sich zu der Verantwortung, welche durch die Untersuchung auch für die Zukunft deutlich wird: „Die Medikamente waren ein bequemes und billiges Mittel, um in den Baracken für Ruhe zu sorgen. Dieser Umgang ist unerträglich und hat mit unserem diakonischen Auftrag nichts zu tun“, unterstreicht Pastor Andreas Kalkowski, Theologischer Vorstand des Landesvereins und drückt seine Dankbarkeit für die klaren Aussagen der Wissenschaftler aus: „Die Beschreibung der damaligen Zustände, die bereits aus früheren Untersuchungen bekannt waren, macht uns immer wieder aufs Neue fassungslos. Es ist unsere Aufgabe, mit qualifiziertem Personal und einer bestmöglichen Ausstattung dafür zu sorgen, dass sich solche Zustände nicht wiederholen“, stellt Kalkowski klar.

Lob für Unterstützung der Wissenschaft

Der Landesverein hat die Untersuchung von Anfang an maßgeblich unterstützt, mit den Mitarbeitern der Untersuchung eng zusammengearbeitet und eigene Mittel eingesetzt, um die Forscher*innen über alle relevanten Archivalien eingehend zu informieren sowie alle gewünschten Akten zur Verfügung zu stellen. Das Forschungsteam hebt das Engagement von Pastor Andreas Kalkowski, Theologischer Vorstand des Landesvereins, der Vorstandsreferentin Suse Schlue sowie dem Archivar des Landesvereins Dr. Harald Jenner ausdrücklich positiv hervor.

Auch künftig wird sich der Landesverein dieser Verantwortung stellen, beispielsweise im Rahmen von Veranstaltungen und Projekten. Unter dem Dach des Diakonischen Werks Schleswig-Holstein hat sich der Landesverein mit finanziellen Mitteln an der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ beteiligt. Diese Stiftung zahlt Entschädigungen an Menschen, die als Kinder oder Jugendliche während der Unterbringung in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben. „Ich ermutige alle Betroffenen, die Angebote der Stiftung zu nutzen“, appelliert Pastor Andreas Kalkowski. Bislang wurden für Bewohner der Einrichtungen des Landesvereins insgesamt 43 Anträge positiv beschieden und eine Summe von insgesamt 433.000 Euro ausgezahlt.