Geschichte der Ricklinger Anstalten: Psychisch Kranke kamen in der Gesellschaft nicht vor

(30.06.2021) Er arbeitete bereits als Jugendlicher in den Ricklinger Anstalten und engagiert sich heute im Kuratorium des Landesvereins: Pastor Dr. Hans-Joachim Ramm berichtet im Gespräch, wie er den Umgang der Pflegekräfte mit den Patienten erlebt und welche Rolle die Medikamente bei der damaligen Behandlung gespielt haben.

Sie haben in den sechziger Jahren in den Ricklinger Anstalten gearbeitet. Wie haben Sie damals den Umgang der Pflegekräfte mit den Patienten erlebt?

Ich habe das Miteinander als respektvoll und zugewandt erlebt, auch wenn manche Situationen, insbesondere die so genannten „Erregungszustände“, nicht einfach waren. Ein Fehlverhalten wäre in jedem Fall geahndet worden. Eine Kontrolle gab es nach meiner Erkenntnis insbesondere durch das „Hauselternprinzip“, weil nach meinem Erleben die Hausväter stets die Ansprechpartner der Patienten waren und ihre Rolle sehr ernst nahmen.

Welche Rolle haben Medikamente in Ihrer Beobachtung bei der damaligen Behandlung gespielt?

Auf "meiner" Station wurden nur die notwendigen Medikamente verabreicht.  Sie waren therapeutisch notwendig etwa bei Epileptikern und Patienten, die etwa an vermehrten Erregungszuständen oder Verfolgungswahn litten. Eine Änderung der Dosierung gab es nur durch die Ärzte, was selten vorkam. Jede Medikamentenausgabe (außer der Dauermedikamente, die bei Verordnung dokumentiert wurden) musste schriftlich im Berichtsbuch der Station dokumentiert werden. Eine Kontrolle darüber erfolgte in der Regel durch den Hausvater, der ausgebildeter Krankenpfleger mit großem Examen und somit kein Hilfspfleger war. Außerdem hab es regelmäßige Visiten durch den Arzt.

Wie schätzen Sie das Ausmaß der Medikamentenerprobungen in den Ricklinger Anstalten ein?

Ich habe davon keine Kenntnis gehabt. Nach der mir bekannten Aktenlage wurden Medikamente nur zu therapeutischen Zwecken verabreicht. Es gab sicher Dosierungsanpassungen und Medikamentenwechsel, um therapeutisch bessere Wirkungen zu erreichen. Von Versuchen habe ich auch durch viele Gespräche mit anderem Pflegepersonal nichts gehört.

Wie haben Sie die Zustände in den Ricklinger Anstalten in den fünfziger und sechziger Jahren erlebt?

Auf den Frauenstationen im Thetmarshof waren neben examinierten Krankenschwestern auch Hilfspflegerinnen im Einsatz. Inwieweit diese fachspezifisch ausgebildet waren, entzieht sich meiner Kenntnis.

Als Diakonenschüler wurde ich unausgebildet als Pflegekraft auf der Männerstation eingesetzt. Eine Einweisung erfolgte durch einen Vorgänger, den Hausvater und den Chefarzt. Letztere machten sich dann in der Praxis ein Bild, ob man diese Aufgaben gewissenhaft und verantwortungsvoll wahrnahm. Es gab eine vierwöchige Probezeit, vor allem, weil ich allein mit einem ebenfalls fachlich unausgebildeten Zivildienstleistenden die Betreuung wahrnahm.

Offenbar waren wir beide - und auch unsere Nachfolger - den Aufgaben gewachsen. Jedenfalls hatten wir auch in der Folgezeit sowohl bei den Patienten als auch bei den Verantwortlichen ein gutes Standing. Nicht ohne Grund wurde ich (aber auch einige Nachfolger) immer wieder zu Vertretungsdiensten in Ferien und Wochenende von der Anstaltsleitung herangezogen, selbst als ich bereits in Kiel studierte.

Die Ausstattung war wohl der Zeit entsprechend einfach, heute würde niemand so untergebracht werden. Dazu muss ich sagen, dass wir Diakonenschüler meist aus der Jugendarbeit kamen und dort als Gruppenleitung bereits Verantwortung gelernt hatten. Unterkünfte in Vielbettzimmern waren uns also schon von Freizeiten und dergleichen nicht fremd.

Die Hygienebedingungen waren sicher gut. Es gab während der Zeit, die ich überschaue, jedenfalls nach meinem Wissen auf "meiner" Station keine Erkrankungen, die auf mangelnde Hygiene zurückzuführen waren.

Die übrige Ausstattung ist mit den heutigen Rahmenbedingungen nicht zu vergleichen. Sie war schlicht, aber praktikabel. Es gab beispielsweise im Jahr 1964 noch kein Fernsehen, dies wurde erst später angeschafft und war eine Gabe eines Patienten.

Die Organisation oblag dem Hausvater. Meines Erachtens waren die Dienstpläne und sonstige Abläufe gut organisiert. Spontane Personalausfälle, die jedenfalls auf dem Thetmarshof selten waren, wurden durch studentische Hilfskräfte oder Diakonenschüler kompensiert. Letzteres traf auf jeden Fall auf dem Lindenhof und anderen Einrichtungen zu.

Das Essen war ausgesprochen gut. Das lag nicht nur an der fachlich versierten Küchenleitung, sondern auch daran, dass die Ricklinger Anstalten mit Bäckerei, Schlachterei und eigener Landwirtschaft sich größtenteils selbst versorgen konnten und eine gute Qualität produzierten. Dies trifft auch auf den Thetmarshof zu, der über einen sehr großen Garten, über eine Geflügelhaltung und Bienenstöcke verfügte.

Wie würden Sie den historischen und gesellschaftlichen Kontext der Psychiatrie in den fünfziger und sechziger Jahren beschreiben?

Psychisch Kranke kamen in der Gesellschaft nicht vor. Man schämte sich, dass ein Familienmitglied in Schleswig, Rickling oder an anderen einschlägig bekannten Orten untergebracht war und wurde verheimlicht.

Für mich ist das erkennbar in den äußerst seltenen Besuchen "meiner" Patienten durch Familienangehörige. Zwei oder drei Bewohner bekamen regelmäßig Besuch, wobei „regelmäßig“ in diesem Fall „einmal pro Jahr“ bedeutet.

Andere bekamen hin und wieder eine Postkarte mit dem Vermerk "Wir kommen bald", gekommen ist dann aber niemand.

Es gab wenige Pakete - all das, obwohl meist Geschwister, Eltern und andere Angehörige vorhanden waren. Es gab wohl schon die Erkenntnis, aber weniger das Verständnis für psychiatrische Krankheitsbilder. Die pharmakologische Psychiatriemedizin stand in den Anfängen, von Psychotherapie in heutiger Form ganz zu schweigen.

Wie hat sich nach Ihrer Beobachtung die psychiatrische Behandlung in Rickling im Vergleich zwischen den fünfziger und sechziger Jahren bis heute verändert?

Es hat eine diametrale Veränderung stattgefunden, vor allem was Unterkunft, Therapiemöglichkeiten und Personalausstattung angeht. Fachlich ist es sicher ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht.

Gibt es Aspekte aus dem Untersuchungsbericht der Universität Lübeck, die aus Ihrer Sicht noch mehr Aufmerksamkeit verdienen?

Der Untersuchungsbericht der Universität Lübeck stützt sich, was Rickling und die Medikamentengaben angeht, auf nur sechs Akten. Der therapeutische Zweck der Medikamentengabe wurde aus meiner Sicht nicht ausreichend berücksichtigt. Es muss zudem die Frage erlaubt sein, inwieweit man nach einer groben Auswertung von nur sechs Akten auf eine allgemeine Praxis schließen kann.

Zutreffend ist sicher die Kritik der äußeren Umstände und auch der Ausbildung des Pflegepersonals. Beides ist allerdings - das kommt auch in einem Satz deutlich zum Ausdruck - dem vollkommen unzureichenden Pflegesatz zuzuschreiben, der von den Kostenträgern gezahlt wurde. Dieses Problem wird auch in der Studie kaum näher erörtert, Das ist letztlich eine Frage an Politik und Gesellschaft wie viel sie bereit sind, für Menschen (auch mit psychischen Krankheitsbildern) auszugeben.

Im Hinblick auf die Personallage muss zudem berücksichtigt werden, dass es schlichtweg problematisch war, überhaupt Personal für die Einrichtungen zu gewinnen – dies liegt nicht nur an dem schlechten Ruf, den die Psychiatrie damals hatte. Die Lage des Dorfes Rickling war in einer Zeit, in der die meisten Menschen noch kein eigenes Auto besessen haben und der öffentliche Nahverkehr noch nicht so gut ausgebaut war wie heute, ein echter Standortnachteil.

Der Landesverein versuchte gegenzusteuern, indem er bereits Anfang der sechziger Jahre mehrere Schwesternwohnheime auf dem Falkenhorst, Lindenhof und Thetmarshof errichtete. Auf dem Thetmarshof war dieses Haus zu meiner Zeit fast vollkommen durch Pflegepersonal belegt. Das Küchenpersonal wohnte in Einzelzimmern im ausgebauten Dachgeschoss.

Was können wir aus Ihrer Sicht für die Zukunft aus den Erkenntnissen der Untersuchung zu Medikamentenerprobungen lernen?

Damals wie heute ist es unsere Aufgabe und eine Selbstverständlichkeit, Menschen am Rande der Gesellschaft bei allen denkbaren Herausforderungen im Blick zu haben und dafür auch die entsprechenden Kosten zu tragen.

Über den Zeitzeugen

Pastor Dr. Hans-Joachim Ramm ist Mitglied des Kuratoriums des Landesvereins für Innere Mission in Schleswig-Holstein und Autor der Chronik zum 125. Bestehen des Landesvereins. Als Jugendlicher arbeitete Dr. Ramm als Diakonenschüler und danach vertretungsweise bis 1970 auf dem Thetmarshof in Rickling. 1967 wurde er zum Diakon eingesegnet.

Nach einem Theologiestudium wurde er im Lübecker Dom ordiniert und diente zunächst als Pastor in der Kieler Kreuzkirchengemeinde, war anschließend Militärseelsorger in den Standorten Boostedt, Bad Segeberg und Neumünster. In dieser Zeit wurde er mit einer interdisziplinären Studie über den militärischen Widerstand promoviert.

Im Jahre 2010 wurde Dr. Ramm emeritiert, zuvor war er zehn Jahre in der Kirchengemeinde Kropp tätig. Pastor Dr. Hans-Joachim Ramm engagiert sich unter anderem im Verein der Pastorinnen und Pastoren in Nordelbien e.V., im Verein für SH Kirchengeschichte, als Rettungssanitäter und Seelsorger bei der Johanniter-Unfall-Hilfe sowie im Johanniter Orden.