Historischer Kontext: Damalige Zustände nach heutigen Standards völlig unzureichend

(21.04.2021) Bei der Bewertung des Untersuchungsberichts zu Medikamentenerprobungen spielt auch der gesellschaftliche und historische Kontext eine Rolle.

Seit seiner Gründung im Jahr 1875 setzt sich der Landesverein für Menschen ein, welche in psychosoziale Notlagen geraten waren - durch die fortschreitende Industrialisierung landeten viele Arbeitssuchende auf der Straße, die leichte Verfügbarkeit von Alkohol verschärfte die Not. Um sozialen Nöten aus christlichem Glauben zu begegnen, wurde im Jahr 1887 eine erste stationäre Einrichtung für Suchtkranke in Schleswig-Holstein errichtet und bereits damals wurde der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Trunksucht und damit die sozialpsychiatrische Dimension der gesellschaftlichen Probleme erkannt, auch wenn erst im Jahr 1931 die Ricklinger Anstalten gegründet wurden, die sich explizit an Menschen mit psychischen Erkrankungen richteten.

Die Ricklinger Anstalten haben sich ab 1935 zur Aufnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen aus Hamburg verpflichtet. Im Zuge der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik fanden umfangreiche Beschlagnahmungen statt und es wurden Krankenhausbaracken errichtet. Im Jahre 1950 erfolgte die Rückgabe der Abteilung „Lindenhof“ an den Landesverein mit der Verpflichtung zur Aufnahme von 500 Menschen mit psychischen Erkrankungen aus Hamburg. Die Versorgung erfolgte bis in die späten Siebziger Jahre in Krankenhaussonderbaracken aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.

Die Erkenntnisse der Studie verdeutlichen eindringlich die widrigen Rahmenbedingungen, mit denen die Psychiatrie nach dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert war. Die Studie weist auf eine massive Überbelegung in den fünfziger Jahren hin und kritisiert: „Der Landesverein hat die desolate Verhältnisse in den Psychiatrischen Heimen toleriert.“ Klienten wurden damals als „Bewahrungsfälle“ bezeichnet, bei denen „eine wesentliche Besserung nicht mehr zu erwarten“ sei. Bis in die Siebziger Jahre hinein seien die damaligen „Ricklinger Anstalten“ mehr als andere Häuser in Schleswig-Holstein als „Bewahr-Einrichtungen“ anzusehen. Die Form der Behandlung wird nach heutigen Standards als völlig unzureichend eingeschätzt.

Die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen kam erst spät auf die politische Agenda: Erst 1965 sei es dem Bericht zufolge zu einer Landtagsdebatte zur Situation der psychisch Kranken im Land gekommen. Der Bericht setzt sich zudem kritisch mit der Verantwortung der damaligen Landesregierung und Ministerien für die desolaten Zustände in den Landeskrankenhäusern auseinander.