Zeitzeugin über Medikamente in der Psychiatrie: „Die Menschen waren eingeschlossen in ihren Erkrankungen.“

(30.6.2021) Die ehemalige Krankenschwester Irmgard Pade-Schmidt berichtet im NDR-Fernsehen über die Entwicklung der Psychiatrie: von den Ricklinger Anstalten zum Psychiatrischen Zentrum. Hintergrund ist ein NDR-Bericht vom 21. April über Medikamentenversuche in psychiatrischen Einrichtungen in Schleswig-Holstein.

Als Irmgard Pade-Schmidt am 21. April im NDR-Fernsehen den Bericht über Medikamentenversuche an psychiatrischen Patient*innen in den 50er bis 70er Jahren gesehen hatte, wuchs ihr inneres Bedürfnis, den vermittelten Eindruck zu korrigieren - oder zumindest um ihre eigene Sicht auf die Dinge zu ergänzen.

Irmgard Pade-Schmidt hat als junge Krankenschwester, später als Oberschwester in den Ricklinger Anstalten, dem Vorgänger des Psychiatrischen Zentrums Rickling, gearbeitet und kann aus ihrer eigenen Erfahrung berichten: „Wir haben uns alle damals so viel Mühe gegeben mit unseren Patienten. Jetzt wird das alles abgetan und Medikamentengaben so dargestellt, als hätten wir nur unsere Ruhe haben wollen“, erklärt die Zeitzeugin mit nachdenklichem, aber festem Ton. 

Die 87-Jährige wandte sich vor einigen Wochen an den NDR, der heute um 18.00 und 19.30 Uhr einen Bericht sendet. Wir haben mit Irmgard Pade-Schmidt per Telefon über ihre Sicht auf die Psychiatrie vor über 50 Jahren gesprochen. 

Anmerkung: Die Trennung von Krankenhausbereich und Langzeitbereich fand in Rickling sukzessive ab 1978 statt, seit 1988 hat das Psychiatrische Krankenhaus Rickling die Regelversorgung für den Kreis Segeberg inne. Frau Pade-Schmidt spricht deshalb in ihrer Beschreibung der Menschen, die in den 50er, 60er und 70er Jahren im Langzeitbereich gelebt haben, oft von „Patient*innen“ – heutzutage werden sie als „Bewohner*innen“ bezeichnet.

Frau Pade-Schmidt, Sie haben 1953 angefangen, als Hilfspflegerin in den Ricklinger Anstalten zu arbeiten, also schon lange vor Beginn der modernen Psychiatrie. Sie kennen noch die Bedingungen, unter denen Menschen hier gelebt haben und behandelt wurden, bevor es eine differenzierte medikamentöse und therapeutische Behandlung gab. Wie haben Sie die Situation in den Ricklinger Anstalten erlebt, bevor Medikamente zum Einsatz kamen?

Ich habe 1953 im Langzeitbereich auf einer Frauenstation mit eher leichteren Fällen angefangen. Nach einem knappen Jahr kam ich auf eine andere Station mit 40 Patientinnen. Hier waren die Frauen alle schwer psychiatrisch krank, litten unter schweren Depressionen, Schizophrenie oder Epilepsie und lebten dauerhaft bei uns. 

Die Unterbringung fand geschlossen statt, das heißt, die Patientinnen konnten die Station nicht verlassen. Sie trugen Anstaltskleider und hatten kaum Habseligkeiten. Es wurde in großen Schlafräumen mit bis zu 20 Betten geschlafen. Tagsüber saßen die Frauen im Tagesraum und wurden von einer oder zwei Schwestern beaufsichtigt. Als Zeitvertreib haben wir zusammen Mensch-ärger-dich-Nicht gespielt oder Strümpfe gestopft, was aber heikel war wegen der Scheren und Nadeln, die als gefährlich angesehen wurden.
Ich habe die Menschen hier als total eingeschlossen in ihrer Erkrankung erlebt, sowohl in vermindertem Antrieb als auch in großen Unruhezuständen, eben je nach Erkrankung. 

Wie hat der Einsatz von Medikamenten die Situation der Patienten verändert?

Ab Mitte der 50er Jahre fingen wir an, Psychopharmaka zu geben, die damals neu auf den Markt kamen. Bis dahin gab es ja nichts und man gab hocherregten Patienten Schlafmittel. Ab Anfang der 60er Jahre änderte sich die Situation in der Psychiatrie, denn es gab immer mehr wirkkräftige Medikamente und eine differenzierte Behandlung. 1960 bis 1962 habe ich selbst die Schwesternausbildung absolviert, weil ich fundierter arbeiten wollte. Ich fuhr regelmäßig zu Fortbildungen, etwa nach Heidelberg. Das hat mich fachlich sehr geprägt und mir bei meiner Arbeit, auch später als leitende Pflegekraft, sehr geholfen.

Wissen Sie, ob mit den Patienten über die Verabreichung von Medikamenten gesprochen wurde?

Ja, in der Visite, die die wenigen Ärzte für 1000 Patienten täglich abhielten, wurde den Menschen erklärt, welches Medikament sie warum erhielten, etwa bei Änderungen der Medikation. Ob die Patienten das allerdings wirklich verstanden haben, weiß ich nicht. Die Ärzte haben deshalb auch immer mit dem Vormund der Patienten darüber gesprochen.

Wie haben Sie den Umgang der Pflegekräfte mit den Patienten in den Ricklinger Anstalten erlebt?

Wir Krankenschwestern auf den Frauenstationen und die Pfleger, die auf den Männerstationen gearbeitet haben, sind von Anfang an angewiesen worden, mit den uns anvertrauten Menschen würdevoll umzugehen. 

Wir haben die Patienten gesiezt und mit Respekt behandelt. Wir waren für die Pflege und die Versorgung zuständig, haben sie auch gefüttert, wenn sie nicht selbstständig essen konnten. 

Wir haben mehrmals täglich die Medikamente ausgegeben, die alle aufgelöst werden mussten, damit sie auch wirklich geschluckt wurden. Wenn sich eine Patientin weigerte, ihr Medikament einzunehmen, habe ich sie eine Weile in Ruhe gelassen und es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versucht. Das hat meistens geklappt. 

Der Umgang war vertrauensvoll, denn wir Krankenschwestern lebten Anfang der 50er ja auch auf der Station: Wir hatten unsere Zimmer auf der einen Seite des Gangs, auf der anderen waren die Schlafsäle der Patientinnen. Wir waren eine Gemeinschaft mit unseren Patientinnen und unseren Kolleginnen. Wenn die Nachtschwester Hilfe brauchte, war es selbstverständlich, dass sie eine von uns weckte.  

Ab Anfang der 60er Jahre änderte sich viel: Wir Schwestern zogen ins Schwesternwohnheim um. Die Patienten bekamen persönliche Kleidung, wir vermittelten Körperpflege und begannen auch, Ausflüge zu machen, etwa zum Kleiderkaufen nach Neumünster. Wenn wir bei Hertie gewesen waren, sind wir immer noch zusammen ins Café gegangen. Die Kosten für die Ausflüge haben die Patienten von ihrem Taschengeld getragen. 

Den Betreuern waren diese Ausflüge wichtig – uns haben sie Freude gemacht. Irgendwann haben wir Pflegekräfte diese Freizeiten auch in unserer Privatkleidung bestritten – man hat uns als Gruppe also nicht immer sofort angesehen, dass wir aus einer Einrichtung kamen.

Wir haben damals auch total versunkene Menschen mit ins Theater oder in die Operette genommen, damit sie mal etwas anderes erlebten. 

Wie hat die Öffentlichkeit aus Ihrer Sicht in den fünfziger und sechziger Jahren auf Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen geblickt?

Wenn wir auf unseren Ausflügen in der Umgebung waren, habe ich schon komische Blicke gespürt. Die Menschen waren an den Anblick und das Verhalten von Psychiatriepatienten nicht gewöhnt, denn erst ab Anfang der 70er wurden die Stationen geöffnet. Die Patienten wurden dadurch mobil und gingen auch alleine durch das Dorf. 

Ich weiß, dass viele Ricklinger ein bissel Angst vor den Patienten hatten. Wichtig war es deshalb, dass Krankenhausleitung und Direktor des Landesvereins immer gute Kontakte zum Dorf pflegten, um über die Arbeit in der Psychiatrie aufzuklären. 

Man war auch darauf angewiesen, dass die Dorfbewohner Patienten, die sich verlaufen hatten, wieder zurückbrachten oder wenigstens Bescheid sagten.

Haben Sie selbst mal Stigmatisierung erfahren, weil sie in der Psychiatrie gearbeitet haben?

Nein, das ist mir nie passiert, ich habe eher so etwas wie Respekt erfahren, wenn jemand zu mir sagte: „Dass du so eine Arbeit machst… das könnte ich nicht.“ Ach, wissen Sie, die Arbeit war zwar nicht immer einfach, aber ich habe mir immer gesagt, diese Arbeit muss gemacht werden, wo sollen die Menschen denn hin?

Welche Änderungen gab es damals noch?

Wir haben in den 60ern das Blechgeschirr abgeschafft und gegen Keramik ausgetauscht. Dafür habe ich mich sehr eingesetzt und auch manche Widerstände überwunden. Man hatte die Befürchtung, dass viel Geschirr kaputtgehen würde, was sich aber als unbegründet herausstellte. Geschirr ging nur mal beim Abwaschen zu Bruch. 

Als dieser Versuch gut gelungen war, wurden auch Messer und Gabeln angeschafft – bis dahin hatten die Menschen mit dem Löffel gegessen, weil die Verantwortlichen hatten Angst, dass sich die Menschen mit Messer und Gabel etwas antun würden. Anders war gemeinschaftliches Essen bis dahin nicht möglich gewesen, denn wir waren oft nur eine oder zwei Schwestern, die sich um 40 Personen kümmern mussten. Nach jedem Essen haben wir Messer und Gabel auf Vollständigkeit gezählt. 

Die Menschen sollten ihre Brote selbst bestreichen. Diese Veränderung war gut, selbst wenn einige Patientinnen es nicht so richtig hinbekamen – oft hat sich eine Mitpatientin dann fürsorglich um ihre Nachbarin gekümmert und geholfen. So ist auch das Miteinander besser geworden. 

Weil wir auch die Wäsche unserer Patientinnen selbst waschen mussten, wurden Wäschekeller mit Waschmaschinen eingerichtet. Wir Pflegekräfte hatten dadurch, dass die Patienten persönliche Wäsche trugen, einerseits mehr zu tun, andererseits waren wir aber auch angewiesen worden, kleine Aufgaben zu verteilen, wie etwa Reinigungsarbeiten, für die die Pflege damals auch zuständig war. So haben dann immer wieder Bewohnerinnen etwa das Feudeln übernommen.

Ich erinnere mich noch gut an eine Anekdote mit einer Patientin, die oft von Unruhe geplagt war. Es tat ihr gut, mir beim Spänen der Holzfußböden zuzusehen, das hat sie immer beruhigt. Ich habe deshalb immer wieder für sie, ohne dass der Boden das wirklich gebraucht hätte, die Stahlwolle genommen, den Fußboden bearbeitet und anschließend eingeölt. Eines Tages sagte sie zu mir: „Ich habe dir jetzt so oft dabei zugesehen, jetzt lass mich das mal machen.“ Später konnte sie als Hilfe im Haushalt des Oberarztes arbeiten. Das freut mich noch heute, dass sie den Weg nach draußen gehen und sich als arbeitender Mensch mit eigenen Ideen und Möglichkeiten erleben konnte.

Können Sie die Empörung in der Öffentlichkeit über die Medikamentenerprobungen nachvollziehen?

Ist es denn wirklich so, dass die Öffentlichkeit empört ist? Das alles ist doch schon seit Jahren Thema, seit die Medikamentenversuche in Hesterberg publik wurden. Ich bin der Meinung, man muss solche Dinge immer von mehreren Seiten betrachten. Wer damals nicht selbst miterlebt hat, wie krank die Patienten waren, und wie schwer es ist, helfen zu müssen und zu wollen, der sollte nicht zu scharf urteilen. 

So kurz nach dem Krieg waren die Menschen anders. Alle hatten so schlimme Dinge erlebt, die Gesellschaft war im Wiederaufbau. Die moderne Psychiatrie gab es noch nicht, es gab keine wirklichen Medikamente, es gab keine niedergelassenen Fachärzte. 

Von Medikamentenversuchen in Form von systematisch geplanten Versuchsabläufen und Dokumentationen ist mir selbst nichts bekannt, meiner Meinung nach war es eher ein Ausprobieren von neuen und zugelassenen Medikamenten. 

Sie sind dem Landesverein nach einem langen und arbeitsreichen Berufsleben weiter treu geblieben und engagieren sich bis heute ehrenamtlich in der Bücherstube auf dem Lindenhof. Wie würden Sie Ihre Beziehung zum Landesverein beschreiben?

Als ich 1994 in Rente ging, war ich schon sehr traurig. Ich war mit meiner Arbeit sehr verwachsen, für viele Bewohnerinnen auf unseren Stationen waren wir Krankenschwestern Familienersatz. Als ich jung war, sprachen mich immer wieder einige als „meine Tochter“ an, als ältere wurde ich auch mal „Mutti“ oder „Mama“ genannt. Das war normal und zeigt auch, wie eng und vertrauensvoll das Verhältnis zu unseren Bewohnerinnen war.

Was wünschen Sie sich für die Entwicklung der Psychiatrie?

Ich freue mich zu erleben, welche großartigen differenzierten Hilfen Menschen heute erhalten können, denen es seelisch nicht gutgeht. Früher war es so, dass man seine Erkrankung vor den Nachbarn verborgen halten musste, damit niemand schlecht über einen redet oder einen schief ansieht. Heute kann man sich zu seiner Erkrankung bekennen.