Spielen ohne Ende?

Glücksspielsucht in Deutschland nimmt zu

Der Glücksspielatlas des Bundesgesundheitsministeriums zeigt, dass der Umfang an Glücksspiel zunimmt. Mit einem Einsatz von 44,1 Mrd. Euro in Deutschland in 2021 und 14 Mrd. Gewinn für die Spielewirtschaft im gleichen Zeitraum sowie 5 Mrd. Euro Steuereinnahmen für den Staat ist Glücksspiel ein nicht unerheblicher Wirtschaftsfaktor. 

Gleichzeitig ist Glücksspielsucht, englisch Gambling Disorder, inzwischen eine anerkannte Abhängigkeitserkrankung. Der Landesverein bietet mit der Fachstelle Glücksspiel- und Medienabhängigkeit gemeinsam mit den ATS Suchthilfezentren in den Kreisen Ostholstein, Pinneberg, Plön und Segeberg professionelle Beratung und Behandlung bei problematischem Glücksspiel und Medienkonsum.

Eine große Zahl von Menschen ist direkt oder indirekt von den Auswirkungen exzessiven Glücksspiels bzw. Glücksspielsucht betroffen. Neueste Zahlen des jüngst veröffentlichten Glücksspielatlas (https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/details/gluecksspielatlas-2023) nennen 1,3 Millionen direkt an einer Glücksspielstörung erkrankte Menschen, also 2,3% der bundesdeutschen Bevölkerung.

Ein ehemals Betroffener gibt zu bedenken:

„Das ist eine offizielle Zahl. Glückspiel ist eine der wenigen Süchte, die gesellschaftlich so unerkannt sind und geheim gehalten werden, weil es da um die persönlichen Finanzen geht, über die man nicht spricht hier in Deutschland. Und der Punkt, wo man als Süchtiger zu einer Beratung geht, ist bei Alkohol und Substanzen viel leichter meiner Meinung nach als zuzugeben: Ich bin hochverschuldet, ich habe ein Spielproblem. Das geht ja meist einher mit einer psychischen Erkrankung und sobald es um Geld geht in Deutschland, spricht man nicht darüber. Das ist sehr schambehaftet.“

Expert*innen berichten, dass meist ein bis zwei Angehörige mit-betroffen sind und die tatsächlichen Betroffenenzahlen damit deutlich höher lägen. Und: Die Erkrankung bedroht immer auch das soziale Umfeld. Existenzen sind gefährdet, Familien oder Partnerschaften zerbrechen, Kinder wachsen in Armut auf, weitere Menschen oder auch Betriebe werden u.a. durch Diebstahl bzw. Betrugsdelikte geschädigt.

Ein ehemals Betroffener, Mitte 30, sagt heute:

„Man riskiert seine Familie, Freunde, Partnerin zu verlieren oder auch stark zu verletzen, weil man anfängt sein Leben nur noch für sich zu leben. Man lebt in seiner eigenen Blase, da ist alles schön, nach außen versucht man alles zu verschleiern. Ich habe auch eine Beziehung riskiert durch meine Spielsucht und das hätte alles nicht passieren müssen. Dann wäre das Leben vielleicht ganz anderes verlaufen. Das versaut ziemlich viel. Ich war auch vom Charakter ganz anders: Man war angespannt, gestresst, innere Unruhe, war viel schneller auf 180. So kann ich von mir sprechen, weil man den inneren Druck hatte zu spielen. Und wenn ich nach Hause kam und meine Freundin war da, dann konnte ich nicht spielen. Dann war ich genervt, das hat sich aufgestaut, das hat natürlich auch sie dann wieder abbekommen.“

Die Facheinrichtungen für Glücksspielstörungen und Suchterkrankungen erleben die Auswirkungen dieser folgenreichen Erkrankung täglich in der Praxis. Das „klassische“ Automatenspiel in Spielhallen oder Casinos, vermehrt auch Online-Automaten, Sportwetten – in Wettbüros oder Online, Poker, Aktien- und Währungsspekulation oder sogar vieles davon zugleich führt die Betroffenen oder auch die Angehörigen in die Beratung. Nicht selten spielen auch exzessiver Alkohol- oder Drogengebrauch und psychische Begleiterkrankungen eine Rolle und müssen für eine gelingende Behandlung berücksichtigt werden.

Studien zeigen: Die meisten Spieler*innen sind junge Männer (ca. 90 Prozent)

Eine Beraterin berichtet: 

„Die meisten beginnen mit 18, gehen erstmal zur Daddelhalle. Es geht oft schnell. Der Reiz des Gewinnens ist groß, Weitergewinnen ist ein großes Ding. Menschen, die nach Reizen und Abenteuern suchen, sind anfällig dafür. Es kann viel damit zu tun haben, dass man ein Typ ist, der nach Kicks sucht und dann danach süchtig wird. Verfügbarkeit spielt natürlich auch eine Rolle. Onlineglücksspiel birgt große Gefahren, abhängig zu werden.“

Ein ehemals Betroffener, heute Anfang 30, der die ATS-Behandlungsangebote nutzte, erzählt:

Ich habe seit zwei Jahren kein Problem mehr. Ich habe angefangen im minderjährigen Alter mit Automatenspiel und habe mich dann gesteigert –  immer weiter bis zum Onlineglücksspiel. Corona war ein Initiator für meine Spielsucht hoch 10, einfach, weil das Soziale weggebrochen ist. Und in einer Spielothek gibt es eine natürliche Grenze des Einsatzes, wieviel man einzahlen kann, das ist gesetzlich geregelt, das Limit am Automaten. Bei mir war es damals online nicht geregelt, es gab plötzlich kein Limit mehr.

Ich konnte einsetzen, was ich wollte, z.B. 100 Euro für eine Drehung. Sie können sich vorstellen, wie das ist: Sie fangen an nach der Spielothek und bringen das Potenzial ja schon mit, abhängig zu werden, nach dem Gefühl und nach den Geräuschen und dann haben Sie plötzlich die Möglichkeit von 100 Euro pro Drehung und komplett durchzudrehen. Das ruiniert Menschen innerhalb von 20 Minuten. Bei 100 Euro pro Drehung kann ich gefühlt das Jahresgehalt von einem normalen Mitbürger in Minuten wegknallen. Und es fällt niemand auf.

Stellen Sie sich vor, sie haben ihr Leben ganz normal aufgebaut. Sie haben einen Job, sie haben eine Frau und ein Kind und dann bekommen sie so eine Sucht. Sei mal dahingestellt, ob man selbst schuld ist oder nicht: Sie fangen an zu spielen und zu spielen und irgendwann kommt der Punkt, dass Sie so viel Schulden aufgebaut haben, dass Sie weder das Essen für Ihre Familie bezahlen können, noch die Miete, Sie kommen in einen totalen Kontrollverlust, weil Sie nicht mehr Herr der Lage sind und dann stürzt die ganze Welt ein. Ich kann es absolut nachvollziehen, dass es dann zu dem Punkt kommt, wo man sich fragt: Schaff ich das überhaupt noch? Man tut seinem Umfeld ja genauso oder mehr Schlimmes an als sich selbst. Keiner sieht mir an der Nase an, dass ich eine halbe Million Schulden habe. Ich sitze vor Ihnen und alles ist gut. Und wenn ich nach Hause komme, fange ich an zu weinen, weil ich nichts mehr habe, weil ich nichts mehr bezahlen kann, weil mir alles weggenommen wird. Weil alles verspielt ist. Das ganze Leben, alles was man sich all die Jahre aufgebaut hat. Innerhalb eines wirklich kurzen Zeitraums kann es einfach weg sein.

Eine behandelnde Therapeutin führt aus:

„In den Beratungsstellen erleben wir, dass die Menschen zu uns kommen, wenn sie am Ende sind, in einer absoluten Notsituation. Die hat oft damit zu tun: ‚Ich bin aufgeflogen. Ich konnte das Spiel nicht mehr weitertreiben. Meine Partnerin, meine Familie meine Bank ist dahintergekommen, dass ich kein Geld mehr habe und deshalb kann ich nicht mehr weitermachen.‘ Das erleben wir viel. Das spricht dafür, dass viele Menschen sich nicht trauen, sich früh Hilfe zu holen. Der erste Schritt ist oft der schwerste: Hilfe zu suchen.“

Einer der ehemals Betroffenen berichtet:

Meine Hausbank hat mich irgendwann angerufen, dass da komische Beträge von meinem Konto abgehen, so 20 mal 20 Euro jeden Tag, die da abgehen und deshalb wurden die darauf aufmerksam. Und da meine Bankberaterin eben sehr cool mit mir ist, habe ich ihr das Problem geschildert und so kam es ins Laufen. Es wurden Grenzen gesetzt, mit dem Konto, dass man da nicht ins Minus rutschen kann. Die haben das zum Glück schon ernst genommen. Wenn man eine wachsame Beraterin hat, so wie bei mir, wird man schon darauf angesprochen und gedroht, dass das Konto gekündigt wird. Dann kommt man ins Nachdenken, fühlt sich ertappt. Ich habe nur online und eben anonym gespielt und dann kommt so ein Anruf von der Bank und man wurde erwischt, das war so: Oh, das ist ja doof. Man hatte Schamgefühl und hat danach dann ein bisschen was verändert, dann fing das an, da habe ich mir Hilfe geholt. Mein richtiger Auslöser war aber eine Trennung. Dann habe ich mein Leben um 180 Grad gedreht und gesagt: ‚Jetzt zeig ich den Leuten, was ich eigentlich kann und los geht’s!‘ und hab mir Hilfe gesucht vor zwei Jahren.

Schnelle Hilfe und Unterstützungsangebote – auch im Netzwerk

Die Chancen auf schnelle Hilfe im Feld der Glückspielsucht und Medienabhängigkeit sind aktuell gut.

„Jenseits der Beratung gibt es die Behandlung in Form von Glücksspieltherapie“, erklären die Therapeut*innen der ATS Suchthilfezentren. „Bei ausgeprägten Suchterkrankungen gibt es Kliniken ebenso wie die ambulante Behandlung. Die bieten wir an für Menschen, die ihren Alltag fortführen können und wollen. Wir behandeln in einer Mischung aus Einzel- und Gruppentherapie. Es ist wichtig, zu wissen: Es gibt diese Hilfe. Und wenn Menschen erstmal zu uns finden, dann haben wir relativ schnell die Möglichkeit, in Behandlung zu vermitteln, schneller aktuell als beispielsweise bei Depressionsbehandlungen. Wir helfen bei der Antragsstellung und können so meist zügig starten. Viele Menschen trauen sich nicht, weil sie denken: ‚Dann muss ich tausend Jahre warten und dann hilft mir keiner und wo muss ich eigentlich hin?‘ Uns ist es wichtig, dass diese Leute zu uns finden.“

Die ATS Suchthilfezentren und die Fachstelle Glücksspiel- und Medienabhängigkeit helfen in Schleswig- Holstein Betroffenen und deren Angehörigen, die durch Glückspielabhängigkeit in Not geraten sind, durch:

  • umfassende qualifizierte Fach-Beratung
  • Vermittlung in weiterführende Hilfen, Schuldenberatung, Selbsthilfe & Therapie
  • alltagsbegleitende kombinierte Einzel- und Gruppentherapie für Glücksspiel- ebenso wie für Medienabhängige
Eine Beraterin erläutert die vielfältigen Möglichkeiten:

„Wir bieten offene Sprechstunden, Online-Terminvereinbarung, können per E-Mail beraten bei Menschen, die nicht vorbeikommen möchten. Auch abends, wenn man kaputt und fertig auf der eigenen Couch ist, das Leiden groß ist und man an dem Abend noch einen Termin ausmachen möchte, kann man das tun und den Termin für kommende Tage sofort vereinbaren. Man wartet nicht ewig, das macht den Zugang heutzutage leichter. Darüber hinaus sind wir gut vernetzt und kennen und können daher schnell in weitere Hilfen vermitteln.“

Ein ehemals Betroffener sagt:

Wenn man süchtig wird, wird man es merken. Ob man es sich eingesteht, ist die zweite Geschichte, aber jeder, der betroffen ist, wird das merken. Dass das eine Sucht ist und nicht mehr unter Kontrolle.

Sucht ist eine chronische Erkrankung, die dann wieder zum Ausbruch kommt, wenn man es wieder tut, wenn man also wieder spielt. Das wird in der Öffentlichkeit nicht so gesehen. Viele Menschen wissen über die Risiken des Glücksspiels nicht Bescheid. Wissen nicht, dass es abhängig machen kann. […] Wenn man erstmal wieder drin ist in dieser Teufelsspirale, entwickelt man sich wohl schnell wieder dahin. Ich möchte es nicht ausprobieren mit der Rückfälligkeit.

Was ehemals Betroffene ihren Mitmenschen als Gedanken mitgeben möchten, ist vielfältig. Zentral ist immer der Appell, sich Hilfe zu suchen und anzunehmen. Besonders im Fokus sehen sie auch die Prävention, insbesondere für die nachfolgende Generation der Kinder und Jugendlichen.

Einer der ehemals Betroffenen spricht von einer Warnung in beide Richtungen:

Kinder und Jugendliche und ganz klar die Eltern: Es gibt Spiele wie Fortnite oder CSGO (Counter Strike Global Offensive) und das Problem bei diesen Spielen ist, dass man in einer digitalen Währung Glücksspiels-Packs kaufen kann, bei denen man im Vorfeld nicht weiß, was drin ist. Damit bringt man einem Kind bei: ‚Es ist vollkommen normal, dass du etwas investierst und nicht weißt, was du dafür am Ende rausbekommst.‘ Das ist Glücksspiel, das ist absolutes Glücksspiel. Das Problem ist dabei, dass die Kinder dann irgendwann zu Mitteln greifen: Da wird dann Geld geklaut, um mehr Packs zu kaufen. Es für mich unheimlich wichtig, dass die Eltern sich informieren und darauf achten, ihr Kind ordentlich an Geld heranzuführen und es nicht schon sehr früh in ein falsches Verständnis und in eine Abhängigkeit läuft. Und das sehe ich im Umfeld immer und immer mehr.

Die ATS Suchthilfezentren und die Fachstelle Glücksspiel- und Medienabhängigkeit sind sehr aktiv in der Schulpräventionsarbeit und bieten unter anderem Schulungen und Trainings für Multiplikator*innen, die bei Interesse ebenfalls gerne Kontakt aufnehmen können.


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