Theologischer Vorstand: Alle gesellschaftlichen Akteure müssen sich der Aufarbeitung stellen

(30.06.2021)  Andreas Kalkowski geht im Interview auf den historischen Kontext von Medikamentenerprobungen ein - demnach kam es in Rickling nicht zu systematischen Versuchen, sondern vielmehr zur Anwendung von bereits zugelassenen Medikamenten. Weil diese Medikamente neu waren, lagen Erkenntnisse zur genauen Wirksamkeit, den optimalen Anwendungsmodalitäten und möglichen Nebenwirkungen nicht in vollem Umfang vor.

Wie schätzen Sie das Ausmaß der Medikamentenerprobungen ein?

Die Lübecker Medizinhistoriker haben Belege für Versuche an mindestens 3.000 Patienten gefunden. Dabei wurde die Diakonie in einem Atemzug mit den Psychiatrien des Landes genannt. So ist der Eindruck entstanden, dass auch in Rickling systematische Medikamentenversuche im großen Stil durchgeführt wurden. Das war jedoch nicht der Fall und wird auch im Gutachten nicht behauptet.

Von den über 3.000 Fällen geht nur ein Bruchteil auf Rickling zurück: Laut dem Untersuchungsbericht wurden 67 Nachnamen von Patient*innen identifiziert, bei denen der konkrete Verdacht oder Hinweise auf Arzneimittelerprobungen und Anwendungsbeobachtungen vorlagen. Dazu konnten 62 Einzelfallakten untersucht werden, von denen laut dem Untersuchungsbericht nur 20 aussagekräftige Unterlagen enthielten - damit sind aber in erster Linie alltägliche Belege wie Abrechnungsunterlagen oder Aufnahmeformulare gemeint.

In lediglich 6 Akten wurden konkrete Aussagen über die Medikamentenvergabe entdeckt. Es bleiben Einzelfälle. Diese Einzelfälle belegen, dass nicht in vollem Umfang nach den ärztlichen Normen und Werten auch der damaligen Zeit gehandelt wurde. Diese Erkenntnis entschuldigt nichts, sie muss aber bei der Bewertung des Ausmaßes der Medikamentenerprobungen berücksichtigt werden.

Ist es aus Ihrer Sicht angemessen, von „Medikamentenversuchen“ oder gar von „Menschenversuchen“ zu sprechen?

Nach allem, was wir wissen, kam es in Rickling nicht zu systematischen Versuchen, sondern vielmehr zur Anwendung von zugelassenen Medikamenten. Weil diese Medikamente neu waren, lagen Erkenntnisse zur genauen Wirksamkeit, den optimalen Anwendungsmodalitäten und möglichen Nebenwirkungen nicht in vollem Umfang vor. Diese Medikamente wurden nach allem, was wir nach derzeitiger Kenntnis aus den Akten entnehmen konnten, aus therapeutischen Gründen angewendet.

Wie haben die Medikamentenerprobungen konkret ausgesehen?

Der Einsatz einzelner Medikamente wurde variiert, um die optimale Behandlung zu finden. So wurden einzelne Medikamente eingesetzt und wieder abgesetzt und die Dosierung immer neu abgestimmt. Hierbei handelt es sich um die Gewinnung von Erfahrung, um die bestmögliche Behandlung von Patient*innen zu erreichen.

In dem Untersuchungsbericht der Universität Lübeck werden die allgemeinen Zustände in den Ricklinger Anstalten nach dem Zweiten Weltkrieg als desolat beschrieben. Wie lässt sich dies erklären?

Die Ricklinger Anstalten hatten nach dem Zweiten Weltkrieg eine Vereinbarung zur Übernahme von Patienten aus Hamburg-Ochsenzoll (Langenhorn) geschlossen. Aus Hamburg wurden vor allem Patientinnen und Patienten in die norddeutsche Provinz geschickt, die als „schwierig“ und „kaum therapierbar“ galten.

Der Pflegesatz, der von der Stadt Hamburg gezahlt wurde, war außergewöhnlich niedrig. Auch das Gutachten der Universität Lübeck beschreibt diesen Kontext für die Anwendung der Psychopharmaka in Rickling.

Auch wenn es aus heutiger Sicht wenig entschuldigt: Medikamente wurden damals als Alternative zur Fixierung oder der Elektroschocktherapie verstanden. Aus Zeitzeugenberichten wissen wir, dass die damaligen Kolleg*innen den Einsatz von Medikamenten im Sinne der „Besserung“ der Patient*innen verstanden haben.

Sie haben nach Veröffentlichung des Untersuchungsberichts der Universität Lübeck den Aktenbestand erneut unter die Lupe genommen. Welche Erkenntnisse haben Sie dabei gewonnen?

Wir haben versucht, den Behandlungsverlauf und den Verbleib der betroffenen Patient*innen zu ermitteln. In Einzelfällen können wir nicht mehr nachvollziehen, wie es den Patient*innen nach ihrer Zeit in Rickling ergangen ist - beispielsweise, weil eine Betroffene in die damalige DDR ausgewandert war und von dort keine Meldung über den Tod an das Geburtsstandesamt in Norddeutschland erfolgt ist. Wir wissen aber, dass die meisten Betroffenen aufgrund ihres fortgeschrittenen Lebensalters zum Zeitpunkt der Behandlung in Rickling inzwischen verstorben sind.

Bei näherer Untersuchung der einzelnen Akten zeigt sich zu dem Medikamenteneinsatz ein differenziertes Bild: In einem Fall kann aus heutiger Sicht nicht von einer fälschlichen oder missbräuchlichen Medikamentenanwendung gesprochen werden, stattdessen wurde das Medikament über einen längeren Zeitraum erfolgreich angewendet und ermöglichte es, die Patientin gebessert zu entlassen. Bei den anderen Fällen wird deutlich, dass die Medikamentengabe angemessen im angenommenen Interesse der Gesundheit der Patientin erfolgte. Die Behandlung war nach heutigen Maßstäben gewiss unzulänglich, sie hat jedoch eine gewisse allgemeine Beruhigung erreicht, mit der die Patient*innen schrittweise in die Lage versetzt werden sollten, ein eigenständiges Leben zu beginnen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Aus den wichtigen Erkenntnissen der wissenschaftlichen Untersuchung ergibt sich für uns im Landesverein auch künftig eine besondere Verantwortung – wir müssen uns gemeinsam dafür einsetzen, dass die Versorgung von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen nicht kaputtgespart wird. Was ansonsten passieren kann, wurde in der Nachkriegszeit unter anderem in Rickling, aber auch an vielen anderen Orten deutlich.

Außerdem müssen wir uns auch künftig mit unserer Geschichte auseinandersetzen – dies werden wir tun.

Ich wünsche mir auch, dass sich alle gesellschaftlichen Akteure auch künftig dieser Aufarbeitung stellen. „Das wichtigste und aus meiner Sicht auch zentrale Ergebnis unserer Studie ist, dass es nicht den einen schlimmen Ort in Schleswig-Holstein gibt oder den einen schlimmen Akteur“, hat der Medizinhistoriker Cornelius Borck im NDR gesagt. Zuletzt standen aber vor allem Kirche und Diakonie im Fokus der Öffentlichkeit und die Ricklinger Anstalten wurden zum allgegenwärtigen Beispiel - diese Darstellung greift jedoch zu kurz.